Einblick

Seit knapp 150 Jahren gibt es mit dem Schweizer Alpen-Club (SAC) eine Institution, die Ausdruck der Faszination für die Berge ist. Der Club versammelt Menschen, die ihre Freizeit als Alpinisten, Bersteigerinnen, Skitourenläufer, Bergwanderer etc. verbringen möchten. Der SAC stellt aber nicht bloss eine Organisationsform für Gleichgesinnte dar, sondern hinterlässt Spuren, die für die Beschäftigung seiner Mitglieder mit den Bergen stehen.

Eine dieser Spuren ist die Publikation des „Jahrbuches des S.A.C.“ und der Zeitschrift „Alpen“. Das Jahrbuch erschien seit der Gründung des SAC 1864 bis 1923 und wurde dann durch die Monatsschrift „Alpen“ ersetzt, die bis heute kontinuierlich publiziert wurde. Diese Publikationen stellen eine einzigartige Quelle dar, da sie eine erstaunlich homogene Struktur aufweisen. Hauptsächlich finden sich darin Berichte über „Bergfahrten“, Erstbesteigungen und Touren aller Art, aber auch Aufsätze die den Alpinismus und die Bergwelt behandeln.

"Jahrbuch des S.A.C." von 1901: S. 176/177, Walther Flender: Streifzüge durch Korsika und seine Berge. Bild: Monte Cinto vom Monte Ciuntrone.

„Jahrbuch des S.A.C.“ von 1901: S. 176/177, Walther Flender: Streifzüge durch Korsika und seine Berge. Bild: Monte Cinto vom Monte Ciuntrone.

Bislang wurde diese Quelle teilweise historisch ausgewertet oder aber in Jubiläumsschriften und dergleichen in SAC-Publikationen thematisiert. Damit ist diese Quelle aber noch längst nicht erschöpfend ausgereizt: Es fehlen systematischere Analysen, die nicht nur nach den Inhalten der Texte fragen, sondern stärker die Art und Weise in den Blick nehmen, mit der über Berge geschrieben wird. Der Bergsteiger im ausgehenden 19. Jahrhundert verwendet ein anderes Vokabular, um seine Tour zu beschreiben, gibt andere Begründungen, weshalb er sich überhaupt in den Alpen bewegt und lässt an anderen Selbstreflexionen über sein Erleben teilhaben, als es 20, 50 oder 100 Jahre später passiert. Die Veränderungen des Schreibens und Redens über Berge können als Indikator für kulturelle, historische oder sprachliche Veränderungen gelesen werden.

"Jahrbuch des S.A.C." von 1901: S. 272/273, W. A. B. Coolidge: La Chaîne du Mont Blanc à travers les siècles. Bild: Vue de la Vallée de Chamouny prise près d'Argentière.

„Jahrbuch des S.A.C.“ von 1901: S. 272/273, W. A. B. Coolidge: La Chaîne du Mont Blanc à travers les siècles. Bild: Vue de la Vallée de Chamouny prise près d’Argentière.

Ein Ausschnitt eines Berichts aus dem Jahrbuch von 1901 zeigt einerseits eine Sprache, die sich stark von heutigen Bergbeschreibungen unterscheidet:

„Eine noble, königliche Erscheinung darf man ihn füglich nennen, diesen zweithöchsten Gipfel des Alpsteins. Ob von Norden oder Osten, von Süden oder Westen gesehen, allüberall macht er auf uns den Eindruck einer harmonischen Schönheit. Fesselt uns von Nordosten – z. B. vom Schwendithal aus gesehen – die massige, breitschultrige Hünengestalt, die so unvermittelt dem Thalkessel von Oberkellen entragt, so imponiert er vom Fählensee aus nicht minder durch seinen turmartigen Aufbau. Und wie schön dem schmucken Gesellen das flimmernde Silberband steht, das von der wuchtigen Schulter herabwallt!“ (1901: 110)

Andererseits zeigt der Ausschnitt aber auch, dass schon damals ähnliche Sorgen geäussert wurden wie heute:

„Viele Decennien hindurch galt der Gipfel als schwierig. Mit der zunehmenden Routine der Bergsteiger aber hat er in späteren Jahren seinen Nimbus verloren. Doch ist er heute noch ein beliebtes Ziel derer, die, ohne eigentlichen Schwierigkeiten gewachsen zu sein, ihre Freude haben an Gipfeln, auf denen sie nicht durch das allbekannte Gejohle einer nach Hunderten zählenden Menge von ‚Naturenthusiasten‘ in beschaulichem Sinnen und Trachten gestört werden.“ (1901: 110/111)

"Jahrbuch des S.A.C." von 1901: S. 112/113, C. Egloff: Altes und Neues aus dem Säntisgebiet. Bild: Altmann mit Fählensee, Hundstein und Säntis von der Staubern aus. Aufnahme von T. Schefer (Sektion St. Gallen).

„Jahrbuch des S.A.C.“ von 1901: S. 112/113, C. Egloff: Altes und Neues aus dem Säntisgebiet. Bild: Altmann mit Fählensee, Hundstein und Säntis von der Staubern aus. Aufnahme von T. Schefer (Sektion St. Gallen).

Auch ein neueres Beispiel von 1937 verweist auf typische Topoi der Kritik einer beschleunigten, fortschrittlichen Welt:

„Lieber Karl! Vom Julierhospiz sandtest Du mir Bild und Gruss. Die frohe Laune Deiner Zeilen zeigt mir deutlich, dass du es verstanden hast, meiner Empfehlung die bequemste Folge zu geben. Das Lachen ist wieder einmal auf Deiner Seite, denn ich kann es dir nachfühlen, mit welchem Genuss Dein neuer ‚Auburn‘ über die polierte Julierstrasse durch das Oberhalbstein gesteuert wurde. Du kamst natürlich aus dem Engadin und nahmst den angeratenen Übergang von Maloja nach Tiefenkasten ‚unten‘ durch. Die Einwendung, dass zwischen zwei Punkten der gerade Weg der kürzeste sei, muss ich gelten lassen, insofern sich dabei das Mass und die Art der Erlebnisse auf ‚Geschwindigkeit‘ beschränkt. Die Eile allein aber tut es nicht. Bald genug hat man den kleinen Raum durchmessen, der das Leben begrenzt, und fühlt sich seinem Anfang näher als einem lieb ist. Dein viel gerühmter Triumph der Technik mag in der Überwindung aller winterlichen Schwierigkeiten und Mühsale Orgien feiern, aber ebenso sicher ist, dass damit Deinem Bergsteigergewissen nicht gedient ist.“ (1937: 130)

"Alpen" von 1937: S. 132/133, Edwin Weber: Maloja–Tiefenkastel im Winter. Bilder: Edwin Weber: Blick vom Piz Alv nach Südost/Werner Letsch: Blick vom Piz d'Err nach Südwest in die Plattagruppe.

„Alpen“ von 1937: S. 132/133, Edwin Weber: Maloja–Tiefenkastel im Winter. Bilder: Edwin Weber: Blick vom Piz Alv nach Südost/Werner Letsch: Blick vom Piz d’Err nach Südwest in die Plattagruppe.

Um sprachwissenschaftliche, kulturanalytische aber auch historische Analysen durchführen zu können, müssen die Jahrbücher und Alpen-Zeitschriften digital erschlossen werden. Dafür ist das Scanning und die OCR-Texterkennung der Bestände nötig, sowie die korpus- und computerlinguistische Aufbereitung der Daten: Metainformationen werden angefügt, der Text wird mit linguistischen Informationen annotiert (Wortartenerkennung, semantische Kategorien, Eigennamenerkennung etc.) und so aufbereitet, dass sie einfach zugänglich sind.

Die so aufbereiteten Daten lassen sich in vielfältiger Weise nutzen, wobei neben wissenschaftlichen auch kulturelle, touristische und wirtschaftliche Nutzungsideen bestehen.

"Jahrbuch des S.A.C." von 1921: S. 145, W. J. Gyger: Steifereien in Adelbodens Bergen.

„Jahrbuch des S.A.C.“ von 1921: S. 145, W. J. Gyger: Steifereien in Adelbodens Bergen.

Die Jahrbücher sind nicht nur aus sprachlicher Sicht interessant. An ihnen lässt sich auch der Wandel von fotografischen Idealen ablesen. Zwar werden seit Beginn Illustrationen oder Fotografien von Bergen angefertigt und abgedruckt, aber die ästhetischen Massstäbe, nach denen sie erstellt werden, ändern sich.

"Jahrbuch des S.A.C." von 1921: S. 160, E. Gyger: Nünihorn (2715 m).

„Jahrbuch des S.A.C.“ von 1921: S. 160, E. Gyger: Nünihorn (2715 m).

Die sich ändernden Ideale der Fotografie zeigen sich aber nicht nur direkt in den Bildern, sondern auch in theoretischen Aufsätzen, die fotografischen Rat geben wollen. Im Auge des heutigen Betrachters erscheint manch eines der in solchen Aufsätzen als misslungen bezeichnete Bilder als besonders gelungen und interessant.

"Alpen" von 1937: S. 144/145, Giorgio Steinrisser-Caprez: Cima di Cantun, 3360 m. Gruppa del Forno. Bilder: A. Pedrett: Cima di Cantone 2. Spitze/Cima die Cantone Firngrat.

„Alpen“ von 1937: S. 144/145, Giorgio Steinrisser-Caprez: Cima di Cantun, 3360 m. Gruppa del Forno. Bilder: A. Pedrett: Cima di Cantone 2. Spitze/Cima die Cantone Firngrat.

Die Jahrbücher sind heute besonders wegen ihrer „artistischen Beilagen“, die z. B. Bergpanoramen (u. a. von Xavier Imfeld) oder grössere Skizzen enthalten, antiquarische Raritäten. Die eigentlichen Jahrbücher enthalten aber oft ebenfalls ausklappbare Illustrationen oder Fotografien, z. B. im folgenden Bild ein Panorama vom Munt la Schera.

"Alpen" von 1937: S. 104, Hans Boesch: Munt la Schera im schweizerischen Nationalpark. Mit Panorama.

„Alpen“ von 1937: S. 104, Hans Boesch: Munt la Schera im schweizerischen Nationalpark. Mit Panorama.